Sind Sie mit Küssen grosszügig oder eher zurückhaltend?
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als Kind weder geküsst werden wollte noch gerne Küsse verteilt habe. Vielleicht auch deshalb, weil meine Grosseltern, bei denen ich aufgewachsen bin, beide einen Bart hatten. Das pikste natürlich. Bei meinen Töchtern war ich in den ersten Jahren hingegen ein Saugnapf und küsste, was das Zeug hielt. Heute, in meinem Freundeskreis, bin ich mit Küssen auch eher grosszügig. Allen anderen gegenüber verhalte ich mich ganz nach vornehmer englischer Art eher zurückhaltend.
Welche Unterschiede gibt es Ihrer Meinung nach beim Küssen zwischen Italienern, Schweizern und Franzosen?
Wenn ich mich richtig entsinne, gibt man in Frankreich zur Begrüssung vier Küsschen, während es in der Westschweiz drei und im Tessin zwei sind – natürlich berührt man das Gesicht nicht wirklich, um das Make-up nicht zu verschmieren ... In der Deutschschweiz ist man zunächst zurückhaltend, um dann doch drei Küsschen zu geben. Wenn man sich gut kennt, gibt es eine Umarmung dazu. In Deutschland begrüsst man sich mit einer Umarmung und zwei Küsschen. Vor ein paar Wochen haben mir Freundinnen aus München erzählt, dass der Satz «Ich will dich küssen» eher deutschen Mädchen als deutschen Jungs über die Lippen kommt.
Gibt es sprachliche Besonderheiten rund um das Thema Küssen?
Auf Berndeutsch ist ein Kuss ein Müntschi, was mir besonders gefällt. Man muss es nur sagen, schon macht man einen Kussmund.
Der deutsche Kuss ist erstaunlich nah am japanischen kisu, während man im Arabischen kibola verteilt. Das englische kissssssss klingt leise aus. Auf Französisch spricht man auch von bec, was so viel wie Schnabel bedeutet. Auf Italienisch finde ich die Begriffe slinguazzata oder auch limone besonders vielsagend und in der Emilia-Romagna sagt man muligone, was auch ein Gericht, also etwas zum Essen, ist.
Italienische Küsse sprühen nur so über vor Leidenschaft und «fleischlicher Lust» ...
Könnte man meinen, auch wenn das natürlich ein Klischee ist. Die italienische Sprache wirkt oft dramatischer, als es dann wirklich ist. Vielleicht liegt es an den vielen Vokalen? Immerhin hat keine andere Sprache so viele Vokale. In Italien sind Emotionen wie ein lauter Knall, während wahren Gefühlen durch tiefe Seufzer Ausdruck verliehen wird. Die Deutschen haben zwar die Psychologie erfunden, die italienische Oper bis Ende des 19. Jahrhunderts erobert hingegen bis heute weltweit die Bühnen.
Heute wird fast überall hemmungslos geküsst ...
Aber oft nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern virtuell. Sie wissen schon – die berühmten Smileys mit Kussmund und Herzchen, die man über WhatsApp verschickt. Der echte Kuss scheint hingegen vom Aussterben bedroht zu sein. Ausser bei Fussballern: Man denke an die stürmischen Umarmungen nach einem Tor oder an die endlosen Küsse für Totti nach dem letzten Spiel. Auf den Bahnhöfen, die seit jeher Schauplatz für Abschiede sind, sieht man keine langen, emotionsgeladenen Küsse mehr, die keine Rücksicht auf die Blicke der Umherstehenden nehmen. Man denke nur an zurückkehrende Soldaten. Wir Schweizer küssen unsere Haustiere mehr als unsere Kinder. Es wäre toll, wenn es in Grossstädten nach dem Vorbild von WLAN-Hotspots Kussecken gäbe. Für mich ist ein Kuss ein Augenblick der Stille, um neue Energie zu tanken. Augenblicke, die immer seltener werden. Bei einem Kuss bleibt die Zeit für einen Moment stehen, die Arme öffnen sich, die Hände werden abgelegt, die Augen schliessen sich und das Smartphone vibriert vergeblich ...
Am Ende Ihrer Shows umarmen Sie Ihr Publikum und geben ihm symbolisch einen Kuss. Warum?
Auf der Bühne zu stehen ist für mich immer eine Art «Seitensprung». Zwei Stunden lang sind mein Publikum und ich wie zwei Liebhaber. Bevor ich ins Dunkel der Nacht verschwinde und nach Hause gehe, verabschieden wir uns mit einem letzten Kuss – wie zwei Verliebte.
Sehen Sie das Küssen seit Ihrem 60. Geburtstag mit anderen Augen?
In diesem Alter ist Küssen oft auch ein zahntechnisches Problem. Schliesslich sind viele Gebissträger, tragen Implantate oder Plomben ... (schmunzelt). Trotzdem sehe ich immer wieder ältere Menschen, die zwar am Stock gehen, sich aber immer noch gerne küssen. Das ist wirklich schön anzusehen.
Welches sind Ihre Ikonen, wenn es um erotische Küsse geht?
Aus der Literatur Schneewittchen und Judas. Hier ist der Kuss in dem einen Fall lebensspendend, im anderen hingegen todbringend: Während Schneewittchen wieder erwacht, besiegelt Judas Jesu Todesurteil. Bei den Kinofilmen auf jeden Fall «Nuovo Cinema Paradiso» von Giuseppe Tornatore mit nicht gegebenen, nicht gesehenen, vergeudeten Küssen. In der Kunst das Gemälde «Cleopatra lussuriosa» von Giuseppe Amisani, in dem sich die nackte Kleopatra stehend über einen hilflosen Mann beugt und ihm zu sagen scheint: «Küss mich, du Dummkopf!» Ob Kleopatra wohl Deutsche war?