Der Traum, dass Werkzeuge und Maschinen das Leben leichter machen, ist wohl so alt wie die Menschheit. Er ist Motivation für Franziska Ullrich (30) und andere Forscher, die wir in dieser Geschichte kennenlernen werden. Doch spätestens seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts ist er begleitet von der Angst, dass die Segnungen des Fortschritts zum Fluch werden.
So ist es auch mit dem digitalen Wandel: Wir sind heute via Smartphone und Social Media mit den Nachbarn im Dorf verbunden oder mit Kollegen in Japan. Wir machen die Steuererklärung am PC und scannen Arztrechnungen per Handy, um sie zur Krankenkasse zu senden. Sind wir am Samstag nicht sicher, ob noch ein Baumarkt in der Nähe offen hat, gibt Google die Antwort. Vieles in unserem Alltag ist digitalisiert – und wir nutzen die digitalen Helfer gerne. Und dann sehen wir, wie Lenkwaffen in Afghanistan Tod und Zerstörung bringen, ferngesteuert aus einer Kommandozentrale am anderen Ende der Welt – auch das ist Digitalisierung. Hinzu kommen Klischees, geprägt vom Kino: Müssen wir Angst haben vor Klonkriegern, vor der Machtübernahme durch die Maschinen? Oder dürfen wir hoffen, dass freundliche Roboter wie R2-D2 und WALL-E uns helfen, die Welt zu retten?
Die Schweiz mischt mit
Das Epizentrum des digitalen Wandels liegt in Kalifornien, Silicon Valley. Die von dort ausgehenden Erschütterungen sind schon vor vielen Jahren in der Schweiz angekommen: Der Neuenburger Daniel Borel (67) etwa machte die von ihm 1981 mitgegründete Firma Logitech – die mit der Maus – zum weltweit führenden Anbieter kabelloser Peripheriegeräte. Der Baselbieter Urs Hölzle (53) war 2000 als Chefingenieur einer der ersten im damals noch an zwei Händen abzählbaren Google-Team. Als Senior Vice President des Unternehmens mit den weltweit meisten Internet-Zugriffen sorgt er heute dafür, dass die global verteilten Rechenzentren möglichst wenig Energie verbrauchen. Beide, Borel wie Hölzle, holten sich ihr Rüstzeug an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH, der eine in Lausanne, der andere in Zürich.
Grosse Erwartungen
Dort treffen wir nun Franziska Ullrich. Die promovierte Maschinenbau-Ingenieurin und Roboterspezialistin arbeitet mit ihrem Team an einem Gerät, das bald vielen Patienten helfen soll. Die altersbedingte Degeneration der Makula – der für das Sehvermögen bedeutende «Gelbe Fleck» im Auge – ist in Industrienationen die häufigste und weltweit eine der wichtigsten Ursachen für Sehbehinderungen bis zur Erblindung. Es sei denn, ein Gegenmittel wird mehrmals pro Jahr ins Augeninnere gespritzt. Die zur Routine gewordene, für Patient und Arzt aber aufwendige Prozedur soll der Roboter vereinfachen: Mit Anweisungen über das interne Display fixiert er das Auge, vermisst es per Kamera, richtet die Nadel präzise aus und injiziert das Medikament. Bis zur Zulassungsreife braucht es noch einige Jahre Forschung und Entwicklung mit der eigens gegründeten Firma Ophthorobotics. Doch die Erwartungen an das Start-up sind hoch: Die Entwicklung eines Prototyps wurde von Novartis unterstützt. Das US-Wirtschaftsmagazin «Forbes» setzte Franziska Ullrich letztes Jahr auf die Liste der 30 grössten unternehmerischen Jungtalente ausserhalb der USA, «30Under30». Als Kind sammelte sie Spieluhren – «eine Vorstufe der Roboter» – und in der Schule mochte sie Mathe und Naturwissenschaften lieber als Sprachen. Dass sie an diesem Projekt arbeite, habe auch moralische Gründe, betont Franziska Ullrich: «In der Robotik gibt es zwei Bereiche, in denen viel Geld in die Forschung fliesst: Militär und Medizin. Da war für mich klar, wohin ich gehe.»
Ähnlich sieht das auch Margarita Chli (34): «Drohnen können Besseres tun, als Bomben abwerfen und die Terrasse der Nachbarn fotografieren», sagt die Assistenzprofessorin. Sie leitet an der ETH Zürich das «Vision for Robotics Lab», das Robotern das Sehen beibringen will. Unter erschwerten Bedingungen – aber aus gutem Grund, wie sie erläutert: «Wenn uns das bei Drohnen gelingt, die kaum Platz für Sensoren und Rechner haben, aber extrem schnell reagieren müssen, können wir alle Roboter mit visueller Wahrnehmung ausstatten.»
Präzision vs. Intuition
Die Herausforderung ist gross: Der Mensch braucht etwa 60 Prozent seiner Hirnleistung für das Sehen. Ohne diesen hoch entwickelten Sinn würden wir im Dunkeln tappen. Maschinen haben heute zwar schon optische Sensoren, im Unterschied zu uns sogar im Infrarot-Bereich, und Roboter sind besser bei der präzisen Messung von Distanzen. Sie haben jedoch Mühe, intuitiv die relative Anordnung von Dingen in
einem Raum zu erkennen. Wichtig ist ein weiterer Aspekt der Forschung: die Zusammenarbeit von Drohnen in Gruppen: «Wenn die gut funktoniert, kann der Schwarm viel mehr leisten als eine einzelne Drohne», sagt Margarita Chli, die ihre Forschung Anfang Jahr im Rahmen des WEF in Davos präsentierte. Auch wenn Roboter noch weit entfernt seien vom menschlichen Sehen, könnten sie uns schon bald unterstützen, ob bei Hilfseinsätzen in schwer zugänglichen Katastrophengebieten, bei der Wartung von Industrieanlagen oder bei der Vermessung von archäologischen Stätten. Oder in der Landwirtschaft: «Drohnen lassen sich zur Bewässerungskontrolle und zur Früherkennung von Pflanzenkrankheiten einsetzen.»
«
Im Praktikum habe ich mich in die Roboter verliebt.»
Franziska Ullrich (30), CEO Ophthorobotics
Kühe und KI
Welche Möglichkeiten die Digitalisierung eröffnet, zeigte Google Schweiz vor einigen Wochen bei einer Konferenz in Zürich zum Thema Maschinenlernen und Künstliche Intelligenz (KI): Roboter und andere Systeme müssen heute nicht mehr für jeden einzelnen Schritt mühsam programmiert werden – sie können mit sogenannten neuronalen Netzwerken «Erfahrung» sammeln, vergleichbar einem Kind, das durch Hinfallen und Aufstehen nach und nach den aufrechten Gang erlernt. Auch hier ein Beispiel aus der Landwirtschaft: Das System «Ida» des niederländischen Unternehmens Connecterra zeigt per App, wann der beste Zeitpunkt für die Befruchtung einer Kuh ist oder ob eines der Tiere krank wird. Für einen Bauern, der nur wenige Kühe hat, ist das kein Problem. Mit «Ida» behält er aber auch bei grossen Herden den Überblick. Dazu tragen die Tiere eine Art Fitness-Tracker am Halsband, dessen Sensoren die Bewegungsabläufe registrieren, erklärt Saad Ansari (38), Chefingenieur der Firma: «Die KI wertet diese Daten aus, gleicht sie mit Erfahrungswerten ab und kann so früh auf Erkrankungen hinweisen oder zur Zuchtselektion beitragen.»
Die Zürcher Konferenz zeigte: KI wird heute in vielen Bereichen eingesetzt, auf Supercomputern ebenso wie im Handy. Die App «Google Fotos» etwa analysiert den Bildinhalt und sortiert nach Kategorien wie «Sonnenuntergang», «Berge» oder «Autos». Dies mag Spielerei sein, aber bei der medizinischen Bilderkennung oder zur Optimierung des Energieverbrauchs bringen selbstlernende Systeme grosse Fortschritte.
Wie schnell sie dies inzwischen tun, zeigte vor einem Monat das Programm «AlphaGo Zero» von Google Deep Mind: Die Neuentwicklung überflügelte innerhalb von drei Tagen ihre Vorgängerversion, die 2016 Lee Sedol, den weltbesten Profi im Brettspiel Go, erstmals geschlagen hatte. Dazu gaben die Entwickler nur die Regeln des Spiels ein – und liessen dann «AlphaGo Zero» gegen sich selbst spielen.
Roboter an der Arbeit
Digitale Helfer sind nicht nur klug, sondern können auch zupacken: Computer, 3-D-Drucker und Roboter sollen künftig die Architektur individueller und zugleich den Hausbau nachhaltiger und effizienter machen. Getestet wird dies derzeit in Dübendorf ZH: Dort entsteht im Rahmen des «Nationalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation» zusammen mit ETH, Empa und Industriepartnern das weltweit erste Gebäude, das überwiegend digital geplant und gebaut wird. Im kommenden Sommer soll der dreigeschossige Bau bezugsbereit sein. Auch bei Coop unterstützen Roboter die Mitarbeitenden, etwa in der Verteilzentrale Schafisheim AG, wo sie das monotone Sortieren von Leergut übernommen haben. Andere flitzen durchs Kühllager – die Kälte macht ihnen nichts aus.
Big Data gegen Foodwaste
Ein Team der Coop-Informatik arbeitet daran, die Tag für Tag in den Läden abgesetzte Warenmenge zu analysieren. Verbunden mit Daten wie Wetter oder Feiertage lassen sich bessere Vorhersagen des regionalen Bedarfs erstellen. Um zu wissen, dass im Hochsommer Eis, Getränke und Bratwürste gefragt sind, braucht es zwar keine Künstliche Intelligenz. Aber um die Bestellungen über das gesamte Sortiment für einen Laden zu steuern, kann die datenbasierte Prognose den Geschäftsführer unterstützen. Etwa, wenn im Fussballstadion nebenan ein Heimspiel ansteht: Solche und ähnliche Events werden künftig ohne menschliches Eingreifen bei der Bestellung berücksichtigt. Ziel ist, dass die Kundinnen und Kunden nicht vor leeren Regalen stehen und zugleich nicht unnötig viel Frischware liegen bleibt, die am nächsten Tag nicht mehr verkäuflich wäre. Die Coop-Informatiker retten damit zwar nicht die Welt, aber sie leisten einen Beitrag zur sinnvollen Nutzung unserer Ressourcen. Auch darum lohnt es sich, in die Digitalisierung zu investieren.