Dominik Gyseler (44) ist Dozent an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und hat eine Dissertation verfasst, die sich um «Hochbegabung als Thema der Sonderpädagogik» drehte.
Sind hochbegabte Kinder überall unglaublich gut?
Es gilt: Je höher der IQ, desto breiter das Spektrum der Fähigkeiten – sonst würde man im Intelligenztest gar nicht einen solch hohen Wert erreichen. Um jedoch in einem Sachgebiet wie etwa dem Weltall, den Primzahlen oder der Philosophie des Mittelalters konstant hohe Leistungen zu erbringen, braucht es über einen hohen IQ hinaus noch andere Fähigkeiten: ein starkes Interesse, klare Lernstrategien, einen klugen Umgang mit Misserfolgen – und eine gezielte Förderung.
Wie erkennt man ein hochbegabtes Kind?
Auch Eltern und Lehrer stellen den Vergleich mit Gleichaltrigen an, um eine Hochbegabung zu vermuten. Drei Auffälligkeiten stechen dabei hervor. Erstens lernen Hochbegabte schneller als ihre Mitschüler: Sie brauchen weniger Erklärungen, um eine Aufgabe zu beginnen und erledigen diese auch wesentlich schneller. Zweitens ist ihr Wissen so gut organisiert, dass ihnen viel stärker als anderen Lücken auffallen. Häufig erkennt man Hochbegabte deshalb noch besser an den Fragen, die sie stellen, als an ihren Antworten. Drittens können sie besonders schlüssig argumentieren – was sie zuweilen dann demonstrieren, wenn dies beim Lehrer nicht der Fall ist.
Sind mehr Buben oder Mädchen besonders schlau? Und äussert sich das unterschiedlich?
Buben und Mädchen unterscheiden sich nicht in ihrer Intelligenz – interessanterweise aber in ihren Leistungen: So zeigen Mädchen im Durchschnitt eher schlechtere Mathematik-Leistungen. Umgekehrt sind sie den Knaben beim Lesen überlegen.
Wie viele Kinder in der Schweiz sind tatsächlich hochbegabt?
Einen IQ von 130 und mehr erreichen etwa 2 Prozent der Bevölkerung. Diese Tests werden immer wieder normiert. Wenn also zum Beispiel wie in der Stadt Zürich etwas über 15'000 Kinder die Primarschule besuchen, kann man grob von rund 300 Hochbegabten ausgehen.
Gibt es heute mehr sehr schlaue Kinder als früher?
Die Zahl der Hochbegabten nimmt nicht zu. Natürlich weiss ein 10-Jähriger heutzutage ungleich mehr als ein 10-Jähriger vor hundert Jahren. Die Bevölkerung ist also, absolut gesehen, intelligenter geworden. Weil gleichzeitig die Intelligenztests aber immer wieder geeicht werden, werden es stets etwa 2 Prozent sein, die in den Tests weit überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Mit Berichten wie diesem hier werden jedoch Eltern und Lehrpersonen besonders für ein Thema sensibilisiert. Eine ähnliche Dynamik konnte man übrigens in den letzten Jahren auch beim Verdacht auf eine ADHS oder Autismus-Spektrum-Störungen beobachten.
Ist eine Hochbegabung Fluch oder Segen?
Normalerweise ist eine Hochbegabung in der Schule ein Vorteil. Wer besonders schnell lernt, schlüssig argumentiert und über ein hohes Detailwissen verfügt, erbringt mit hoher Wahrscheinlichkeit besonders gute Schulleistungen und fühlt sich wohl. Rund 80 Prozent der hochbegabten Kinder und Jugendlichen durchlaufen die Schule ohne Probleme. Das heisst aber auch: 20 Prozent der Hochbegabten zeigen irgendwann einmal im Verlauf ihrer Schulzeit nennenswerte Probleme. Ein Fluch ist die Hochbegabung dann, wenn ein Kind nicht trotz, sondern gerade wegen der hohen Intelligenz Probleme in der Schule kriegt. Dies geschieht, wenn sie nicht erkannt wird, was zu einer Unterforderung des Kindes führen kann. Oder im Gegenteil, wenn die Erwartungen an das Kind oder die Schule unrealistisch hoch werden, was zu einer Überforderung führt. Die Folge: Minderleistungen, Verhaltensprobleme und hoher Leidensdruck.
Erhalten clevere Kids genügend Unterstützung?
Grundsätzlich gilt: Die Begabtenförderung in der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte. Viele Lehrpersonen, Schulen und Gemeinden haben in den letzten zwanzig Jahren hervorragende Angebote entwickelt, um den Bedürfnissen hochbegabter Kinder gerecht zu werden. Aber natürlich gibt es auch Hochbegabte, die durch dieses Netz fallen, selbst wenn es sehr engmaschig ist. Am dringendsten wäre eine bessere Förderung von Hochbegabten, die in Folge einer langen, massiven Unterforderung Schulprobleme entwickelt haben, schlechte Leistungen zeigen, lustlos sind, keine Lernstrategien haben, keine Erfolgszuversicht, abgestumpft sind. Das ist eine Aufgabe für die Heilpädagogik, die noch zu wenig wahrgenommen wird.
Was können Eltern tun, um ihr hochintelligentes Kind zu fördern?
Eltern sollten nicht darauf abzielen, ihrem Kind zusätzliches Wissen einzutrichtern – auch wenn sie das Gefühl haben, dass es in der Schule zu wenig «Futter» bekommt. Vielmehr ist dem Kind auch zu Hause mehr geholfen, wenn es beim Lernen selber begleitet wird: Wie lerne ich am besten – alleine, zu zweit, lesend, diskutierend, vor oder nach dem Essen? Wie schaffe ich es, dranzubleiben, wenn mir mal die Lösung nicht sofort einfällt? Und wenn ich etwas total in den Sand gesetzt habe: Wie kann ich das beim nächsten Mal verhindern?
Was benötigen Hochintelligente?
Eine gute Begabtenförderung ist nicht darauf ausgerichtet, dass die Kinder sich noch mehr Fachwissen aneignen. Das ist eine häufige Annahme, aber zu kurz gedacht. Vielmehr müssten überfachliche Fähigkeiten trainiert werden: nützliche Lernstrategien, ein kluger Umgang mit Fehlern und Misserfolgen oder kritisches Denken. Das sind die Fähigkeiten, die den Kindern wirklich langfristig helfen – der Wissenserwerb im jeweiligen Thema ist lediglich ein willkommener Nebeneffekt. Um dies zu erreichen, braucht es Lehrer, die ein Thema wie das Weltall, Primzahlen oder die Philosophie des Mittelalters didaktisch so aufbereiten können, dass genau diese Fähigkeiten trainiert werden können.
Braucht es spezielle Klassen?
Ja. Hochbegabte lernen bestimmte Fähigkeiten besser, wenn sie mit ähnlich guten Mitschülern konfrontiert sind: etwa die Leistungserbringung unter Druck, der Umgang mit gefühlten Misserfolgen oder das genaue Beobachten von Vorbildern. Auch aus der Sicht der Lehrer können spezielle Angebote für Hochbegabte sinnvoll sein, wenn sie schlicht zu wenig Ressourcen haben, um dem ganzen Spektrum an Begabungen in ihrer Klasse gerecht zu werden.
Was geschieht, wenn Hochintelligenz nicht erkannt wird?
In den meisten Fällen passiert nichts Negatives, und die Schulkarriere verläuft ganz normal. Wenn ein Kind jedoch länger als ein Jahr stark unterfordert ist, kann das zu Problemen führen: Es verliert zunehmend die Motivation, eignet sich keine Lernstrategien und keinen klugen Umgang mit Misserfolg an und zeigt immer häufiger Minderleistungen und Verhaltensprobleme – was wiederum die Motivation weiter schwächt. Je schneller sich diese Negativspirale dreht, desto höher wird der Leidensdruck des Kindes, aber auch der Lehrer und der Eltern.