Wandern kann man so oder anders. Man kann Kilo- und Höhenmeter abspulen, etwa in der Art, wie man im Büro lästige Pendenzen erledigt: schnell, effizient, leistungsorientiert. Und eher lieblos. Oder man kann den Gang durch die Natur zu einem Ereignis machen, das die Seele berührt und dem Körper wohltut. Wir – also der Fotograf Heiner H. Schmitt und ich – gehören eher zur ersten Kategorie und geben Schub. Schliesslich sind wir hier, um zu arbeiten, nicht, um zu geniessen. Aber dann das: «Hey – ihr seid nicht auf der Flucht», sagt Fanny Zambaz nach einer halben Stunde auf dem Weg entlang der «Grand-Bisse de Lens» unterhalb von Crans-Montana. Fanny hat die Liebe zur Natur im Herzen und das Abzeichen als diplomierte Wanderleiterin auf ihrem Rucksack. «Nehmt euch Zeit, ihr werdet es nicht bereuen.» Also schalten wir einen halben Gang zurück. Nur Lanin, Fannys Husky, rennt endlos hin und her – Freude pur. Aber er hat ja auch vier Beine.
Die Wanderleiterin kennt ihre Pappenheimer und lässt nicht locker. Nach einer weiteren halben Stunde sagt die 34-jährige Mutter von zwei Kindern: «Erzählt doch mal, was ihr in den letzten 30 Minuten gehört, gesehen, gerochen, gespürt, gefühlt habt.» Gefühlt? Gespürt? Keine Ahnung! Aber vielleicht hat die Frau recht. Wir beide halten inne, sperren Augen, Ohren und Nase auf und langsam realisieren wir, dass es rund um uns herum kreucht und fleucht: Zwei Eidechsen haben es sich an der Sonne bequem gemacht. Grillen zirpen und unzählige Vögel jubilieren. Der Wald ist ein Konzertsaal – seine Bewohner müssten eigentlich Eintritt verlangen. Dazu dieser Duft. Die Luft ist im einen Moment geschwängert mit dem Geruch von Föhrenharz, ein paar Schritte weiter ändert das Parfum. Eine reife Blumenwiese riecht, als ob jemand literweise Honig ausgeleert hätte. Entsprechend viele Bienen brummen schwer beladen wie Lastkähne heimwärts. Achtsamkeit und Zeit.
Fanny hat als Fotografin die grosse Welt gesehen, doch am faszinierendsten ist für sie der kleine Kosmos am Wegrand: «Ich nehme immer eine Lupe mit. Blätter und Blumen sieht man erst so wirklich gut. Auch dass Ameisen oder kleine Käfer ein Gesicht haben, sieht man von blossem Auge ja kaum.» Sie hat recht. In der Vergrösserung zeigt sich, dass schon ein simples Blatt mit seinen Adern und Äderchen ein wahres Wunderwerk ist. «Vor allem meine Kinder entdecken mit der Lupe ganz neue Welten», sagt Fanny. Auch ein anderes Utensil lohnt sich: Die Schönheit und Eleganz eines kreisenden Adlers lässt sich erst mit dem Fernglas erfassen. Ob Habitate von Tieren, seltenen Blumen oder sensible Landschaften – unsere Wanderleiterin besteht darauf, dass Verbote oder auch nur Hinweise von Behörden oder Naturschutzorganisationen befolgt werden. Sie erklärt auch, warum. «Nimm eine Blumenwiese oder ein Gletschervorfeld, wo gerade die ersten Pionierpflanzen wachsen.
Der Erste, der da drüberlatscht, trampt einen Weg. Dann kommt der Nächste und bald hat es sich mit den Blumen. Das darf nicht sein.» Ausserdem brauchen Wildtiere ihre Ruhezonen, und was ein lustiges Feuerchen am falschen Ort anrichten kann, ist sattsam bekannt. Mit zunehmend geschärften Sinnen laufen wir durch eines der regenärmsten Gebiete der Schweiz und bewundern die kunstvoll in den Berg gebaute Suone von Lens, welche das Gletscherwasser ins Tal leitet. Apropos Wasser: So alle halbe Stunde schaut Fanny darauf, dass wir trinken. «Trinken ist wichtiger, viel wichtiger als essen», sagt die Einheimische. Und dann verführt sie uns auch noch dazu, die Wanderschuhe auszuziehen und die Füsse ins kalte Suonen-Wasser zu strecken: zuerst brrr, dann herrlich. Übrigens wächst am Wegrand einiges, das Genuss verspricht, aber Fanny gibt etwas zu bedenken: «Vieles ist essbar, aber vieles ist einfach auch nur bitter oder gar giftig. Darum soll man nur probieren, was man 100-prozentig kennt.»
Ausserdem mahnt sie, nicht einfach sinnlos Blätter abzureissen: «Es braucht so wenig.» Bei frischen Birkenblättern oder Tannenschösslingen kann nicht viel schiefgehen: Fanny beispielsweise macht damit Tee. Ein Aufguss von getrockneten Birkenblättern wirke entwässernd, Tannspitzen-Tee oder -Konfitüre schmecke sensationell. «Ein kleineres Tannästchen gibt auch der Bratensauce ein gewisses Etwas», sagt die Wanderleiterin. Beim ersten Mal hat die junge Frau den Fehler gemacht, das Ästchen ohne Sieb oder Leinensäckchen in die Sauce zu legen. «Es roch sehr gut, doch wir haben wegen der aufgelösten Rinde mehr gespuckt als gegessen.»
Wandern ist auch Erfahrungen sammeln. Eine von Fannys Erfahrungen betrifft die Kleider. Man brauche zum Wandern nicht viele T-Shirts und Hosen. «Aber die Kleider, die man kauft, sollen von guter Qualität sein.» Sie selber zieht wegen des Tragekomforts natürliche Fasern wie Merino oder Seide synthetischen Geweben vor. Ausserdem kauft sie nur Marken, die nachweislich umwelt- und sozialverträglich wirtschaften.
Essen ist neben dem Trinken ein wichtiges Thema für Wanderer. «Am meisten hast du von einer Wanderung, wenn du auf einer Alphütte oder in einer Bauernbeiz einkehrst. Iss lokale Produkte, die hier wachsen, verarbeitet und gekocht werden», sagt Fanny. «Regionale Produkte sind ein Stück Kulturgut, wie die Suonen oder die Weinkeller.» Auch wir werden auf unserem Marsch vom Hunger eingeholt, aber eine Besenbeiz oder Alphütte gibts auf unserer heutigen Tour nicht. Was isst man in diesem Fall als Wanderer? Fanny zählt auf, was sich sowohl für den Rucksack als auch für den Magen eignet: Trockenfleisch, Käse, Nüsse, Schoggi und Trockenfrüchte als Energieschub. Bei der Hauptrast überrascht sie uns dann mit einem Cervelat vom Feuer, mit Brot, Käse und – wir befinden uns im Wallis – einem Tropfen vom Besseren. «Es geht nicht darum, sich einen anzutrinken – überhaupt nicht. Aber eine Wanderung soll für alle Sinne ein Genuss sein.»